Überall ist Taksim

„Überall ist Taksim – überall ist Widerstand“ hallt es durch die Istiklal-Straße in Istanbul. Die Shopping Meile Richtung Taksim Platz ist voll von Demonstranten. Auch die Polizei ist vor Ort. Es kommt zu Auseinandersetzungen. Böller fliegen, Pyro wird gezündet. Die Staatsmacht antwortet mit Wasserwerfern. Nach einer Weile wird die Demonstration aufgelöst. Mehrere Menschen werden festgenommen. Der Rest der Demonstranten verläuft sich in den Straßen Istanbuls.
Eine typische Szene, wie sie auch bei den Protesten gegen die Räumung des Gezi Parks im vergangenen Jahr stattfand – an denen Ultras maßgeblich beteiligt waren. Doch diesmal ist der Auslöser ein anderer. Auch die Demonstration wirkt homogener. Denn es sind fast ausschließlich Ultras an diesem Tag in Istanbul zusammengekommen. Die großen Istanbuler Gruppen, wie Carsi, Ultraslan und Genç FB sind zum ersten Mal seit den Gezi-Protesten wieder gemeinsam auf der Straße. Damals hatten sich die drei verfeindeten Gruppen gemeinsam an den Demonstrationen auf dem Taksim Platz beteiligt.

fbklein2In Kreisen der deutschen Ultraszene wurde das Ganze damals aufmerksam verfolgt. Es wurde diskutiert und man stellte sich Fragen wie: Kann das gut gehen – verfeindete Gruppen zusammen gegen die Staatsmacht? Sollten sich die Ultras nicht aus den politischen Angelegenheiten raushalten? Diese, damals schnell widerlegten, Fragen scheinen im Zuge der aktuellen Proteste gar nicht erst aufkommen zu können.

Denn der Anlass könnte – auf den ersten Blick – kaum fußballbezogener sein. Es geht um ein im April vom türkischen Fußballverband eingeführtes Ticketsystem, das aus einer Bankkarte, der Passolig besteht. Nur Inhaber dieser Karte können Spiele der 1. und 2. türkischen Liga im Stadion sehen und auch nur die Spiele, an denen der eigene Verein beteiligt ist. Denn neben der Angabe des Lieblingsvereins, werden auch allerhand anderer Daten auf der Karte gespeichert. Von nationaler Identifikationsnummer (Ausweisnummer) bis hin zu Kontodaten ist alles drauf, was der absoluten Personalisierung dient. Ein Foto darf natürlich auch nicht fehlen. Denn das ist der kleine Unterscheid zur italienischen Tessera: In den türkischen Stadien werden Gesichtsscanner (bzw. Kameras) installiert, die überwachen sollen, ob auch wirklich der Eigentümer der Karte auf dem georderten Platz sitzt. Ein Instrument, das die Gewalt in den Stadien eindämmen soll. Im Moment führt es aber vor allem dazu, dass die Stadien leer bleiben. Beim Derby zwischen Fenerbahce und Besiktas wurden nur rund 8000 Karten verkauft. Carsi hatte zum Boykott des Spiels und der Passolig aufgerufen.

Der Konflikt zwischen Fußballverband und Fankultur scheint damit auch in der Türkei angekommen zu sein. Auch hier laufen, wie in Italien, Repressionsmaßnahmen vor allem über Überwachungs- und Ausschließungsmechanismen. Durch die Passolig wird es um ein Vielfaches einfacher unliebsame Stadiongänger fernzuhalten. Was noch erschwerend hinzukommen dürfte ist, dass die türkische Polizei Zugriff auf die Daten der Passolig hat. Und das auch aus gutem Grund. Die Einführung der Passolig scheint nämlich eben nicht nur ein Repressionsinstrument gegen die Fankultur alleine zu sein.

Im Zuge der Proteste auf dem Taksim-Platz haben sich viele türkische Ultras politisiert. Für sie sind nicht allein Fußballfunktionäre und Politiker diejenigen, die den Fußball zerstören. Vielmehr haben sie eine neoliberale Logik dahinter erkannt, nach der auch der letzte öffentliche Raum ökonomisch verwertbar gemacht werden soll. Die Privatwirtschaft ist einer der größten Profiteure der Privatisierung öffentlichen Raums – also auch des Fußballs. Die Politisierung der türkischen Ultras scheint Ministerpräsident Erdogan seit den Gezi-Protesten ein Dorn im Auge sein. Die Macht, die die Ultras nicht nur im Stadion haben, könnte für Erdogan nochmal zum Problem werden. Sicherlich erinnert er sich auch noch an den Beginn des „Arabischen Frühlings“ in Ägypten. Damals waren Ultras von Al Ahly Kairo federführend an den Protesten gegen die Regierung beteiligt. Aber nicht nur aus diesen Gründen kommt ihm die Passolig gerade recht.

0Hinter der Passolig steht die Investmentbank „Atif“. Mit bisher nur acht Filialen in der ganzen Türkei gehört sie zu den eher kleinen Banken. Doch der Zuschlag für die Passolig sichert der Bank auf einmal ca. 8 Millionen Neukunden bzw. Fußballfans- und damit auch mehrere Millionen Kapital. Man wundert sich, wie ausgerechnet eine Investment Bank, die nicht auf ein Kundengeschäft wie dieses ausgelegt ist (8 Filialen!), den Zuschlag für das Millionengeschäft „Passolig“ bekommen konnte. Ein zweiter Blick offenbart dann, dass hinter der Atif Bank die Calik Holding steht. Geschäftsführer (CEO) ist kein anderer als der Schwiegersohn des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan.

Die Verstrickungen zwischen Privatwirtschaft und Politik sind kein neues Phänomen – auch nicht in der Türkei. Doch dieser Pakt wird von vielen Teilen der türkischen Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Auch die Ultras haben es geschafft sich ihrer gesellschaftlichen Relevanz bewusst zu werden. Denn die Probleme der türkischen Gesellschaft sind auch die Probleme der Ultras. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht gleich, dass die Probleme der Ultras auch die Probleme der Gesellschaft sind. Es ist fraglich ob die türkische Gesellschaft, die Probleme der Ultras auch als die eigenen Probleme wahrnimmt. Daher kann man nur hoffen, dass die Ultras in der Türkei sich ihrer eigenen Möglichkeiten bewusst werden und sich weiter untereinander vernetzen. Nur ein gemeinsamer, aktiver Protest kann zum Erfolg führen. Der Boykott allein wird nicht ausreichen.
Immerhin entschied kürzlich ein Gericht in Ankara, dass die Passolig gegen Datenschutzbestimmungen verstoße und daher abgeändert werden muss. Das wird jedoch nicht viel ändern. Das System, das dahinter steckt, wird dadurch nicht angetastet.