UdH# 97: Betze vs Sandhausen
Aufgrund einer streikenden Festplatte wird Ausgabe 97 als besonderer Kraftakt in Erinnerung bleiben. Dass Dank einer Nacht-, Nebel- und Mittagspausen-Aktion die Ausgabe letztlich doch rechtzeitig zum Freitagsspiel den Weg in die Kurve fand, verdankt sie dem Engagement und Willen der Redaktion. Seid euch beim Lesen dieser Ausgabe also bitte in besonderem Maße dem arbeitsintensivem und punktuell nervenaufreibenden Entstehungsprozesses bewusst.
Um den Bogen mal knapp zu überspannen: Liebe Mannschaft, nehmt euch ein Beispiel hieran! Aus einem Rückschlag muss keine Niederlage entstehen. In den letzten Spielen gingen mit dem 0:1 die Köpfe runter, die Bereitschaft im Spiel Verantwortung zu übernehmen offenbar direkt unter die Dusche. Das Heimspiel gegen Sandhausen hat gezeigt, dass Spiele auch gedreht werden können. Was früher gang und gäbe auf unserem Betze war, das geht noch immer!
In der Hoffnung, dass die Knoten in den Köpfen gelöst sind, lehnen wir uns zurück, genießen die Sonne und vertreiben uns mit dem Unter die Haut# 97 die Zeit bis zum nächsten Heimspiel gegen den FC Köln. Als Titelstory haben wir einen Beitrag mit Bezug zu einem aktuellen und medial zurzeit omnipräsenten Thema erwählt. Viel Spaß beim Lesen und bis die Tage!
Ukraine: Ultras zwischen Waffenstillstand und Staatsstreich
Wohl das Nachrichten-Thema der letzten Wochen waren die Geschehnisse in der Ukraine. Im Fokus war vor allem der Maidan-Platz vor dem Regierungssitz vom mittlerweile ins Exil vertriebenen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Jeden Tag wurden Bilder nach Deutschland gesendet, die heftige Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten zeigten. Zwischen all den Bildern und Meldungen über Klitschkos, Tymoschenkos und so weiter, war eine Meldung dabei, die vor allem für Fußballfans von Interesse war. Und zwar hatten Ultragruppen von 34 Fußballvereinen in der Ukraine einen gegenseitigen Waffenstillstand ausgerufen. Ursache war zu diesem Zeitpunkt, laut Stellungnahme der beteiligten Gruppen, die Repression gegen Ultras, die an den Protesten beteiligt waren. Darüber hinaus wurde der Waffenstillstand aber auch damit begründet, dass gegenseitige Angriffe der Gruppen die gesellschaftliche Situation verschlechtern würden. Mit dem Waffenstillstand verpflichteten sich die Ultras auf Auseinandersetzungen zu verzichten, keine Fanutensilien anderer Ultras zu klauen und zu verbrennen, keine Graffitis anderer Ultras zu übersprühen und Gesänge und Spruchbänder gegen andere Vereine zu unterlassen.
Aber was genau steckt hinter dieser Vereinbarung zum Waffenstillstand? Und was ergibt sich hieraus? Die folgenden Zeilen sollen etwas Aufschluss geben über die Entscheidung der ukrainischen Ultras. Dieser Text soll lediglich die Fakten und Tatsachen der letzten Monate bzw. Jahre widerspiegeln. Es geht weder um die Frage nach politischen Beweggründen, noch um eine politische Analyse der aktuellen Situation. Hier geht’s vor allem darum, einen Blick auf die Geschehnisse aus einer fußball- bzw. fankulturellen Sicht zu werfen.
Vielen dürfte noch die BBC-Dokumentation „Stadiums of Hate“ über die ukrainische Fanszene bekannt sein. Nicht zufällig erschien sie pünktlich zur UEFA Euro 2012 in Polen und der Ukraine. Damals wurde damit versucht, ein einseitiges und bedrohliches Bild ukrainischer Ultras zu zeichnen. Richtig ist, dass es Gruppen gibt, die offen mit rechter Symbolik und rassistischen Gesängen im Stadion auftreten. Das versuchte auch die Doku zu vermitteln. Dennoch wirkte die Reportage eher aufgebauscht. Es sollte ein Bild von Ultras erzeugt werden, dass vor allem der Politik, aber auch der Polizei, als Legitimationsgrundlage dienen sollte, rigoros gegen Ultras und Fankultur vorzugehen – gerade auch im Zuge der EM und dabei nicht nur beschränkt auf die Ukraine. Protest gegen die kommerzielle Kultur der UEFA sollte delegitimiert werden und mit Schlagwörtern wie Hass und Gewalt diskreditiert werden.
Dass es aber auch Ultras gibt, die so gar nicht in das eindimensionale Bild der BBC-Doku passten, beweisen beispielweise die Ultras von Arsenal Kiew. Sie wurden zwar von den Filmemachern interviewt, wurden wohl aber aus oben genannten Gründen dann letztlich doch nicht für die Endfassung der Reportage berücksichtig. Mittlerweile gibt es den FK Arsenal aus Kiew nicht mehr: der Verein musste im Oktober des letzten Jahres Insolvenz anmelden und den Spielbetrieb einstellen. Trotz der engen Sichtweise der BBC Reportage waren die Darstellungen aus rein informativer Perspektive durchaus nicht falsch. Die Fankultur in der Ukraine ist, wie in vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, eher rechts. Vor allem die Ultragruppen White Boys Club und Ultras Dynamo von Dynamo Kiew scheinen kein Problem damit zu haben, sich von rechten Strukturen und Parteien einspannen zu lassen – und das nicht erst seit den aktuellen Protesten gegen die Regierung. So organisierte die Partei „Svoboda“ (Freiheit) 2010 in Kiew einen Fanmarsch mit 5.000 Fußballfans gegen ausländische Fußballspieler und für die Akzeptanz von rechten Symbolen in Stadien. Der Parteivorsitzende der „Svoboda“, Oleh Tjahnibok, stellt übrigens neben Ex-Boxer Klitschko die aktuelle Übergangsregierung in der Ukraine.
Auch während der Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew gab es Berührungen zwischen der Svoboda und einigen Ultras von Dynamo Kiew. So rekrutierte sich vor allem der militärische Teil der Partei aus Teilen der Kiewer Szene. Aufgabe dieser sogenannten Selbstverteidigungsmilizen war es, die Demonstranten vor Übergriffen durch die Polizei zu schützen. Aber auch wenn man sich aktuelle Bilder aus der Kurve von Dynamo Kiew anschaut, wird die Verbindung zu den Protesten deutlich. Die schwarz-roten Fahnen vom Maidan-Platz werden auch in der Kurve geschwenkt. Aber auch außerhalb von Kiew gab es Proteste, an denen ebenfalls Teile von Ultraszenen beteiligt waren. So zum Beispiel in der Westukraine, genauer gesagt in Lwiw (Lemberg). Laut Presseberichterstattungen haben dort ebenfalls Ultras begonnen, Selbstverteidigungsstrukturen aufzubauen.
Auch die Ultraszene von Karpaty Lwiw, darunter die Banderstadt Ultras, hegen gute Kontakte zur Svoboda. Im Stadion versuchen sie ebenfalls nicht gerade ihre politische Gesinnung zu verstecken. In ihre Kurve, über welche sie das Ticketmonopol besitzen, lassen sie nur weiße Ukrainer/innen. Regelmäßig zeigen sie Choreografien und Doppelhalter mit Stepan Bandera, einem Ultranationalisten und Kriegsverbrecher, auf den sich auch die Partei Svoboda beruft. Mit einer Choreografie huldigten sie einst gar einer SS-Division.
Der Waffenstillstand, der als Nicht-Angriffspakt verstanden wurde, scheint eine viel größere Wirkung zu haben, als vielleicht von den beteiligten Gruppen angenommen oder beabsichtigt. Nicht nur in Kiew und Lwiw, auch in 17 anderen Städten sind Ultras Teile der Protestbewegungen. Unter anderem in Donetsk, Kharkiw und Odessa. Trotz starker Feindschaft einiger Gruppen untereinander, scheint sich durch das gemeinsame Feindbild eine Verbrüderung im weitesten Sinne abzuzeichnen. Die Gemeinsamkeiten scheinen sowieso größer zu sein, als die Unterschiede: fast jeder Club in der Ukraine wird von einem reichen Investor geführt, der in der Regel auch noch gute Beziehungen zur Politik hat.